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Ohne Zweifel sind die Psychologen diejenigen,
die heute am wenigsten über die Seele auszusagen imstande sind, es sich
aber zur Ehre anrechnen dürfen, durch ihre Tätigkeit allein den
Bestand aller vier Fakultäten zu jenem Gedankenpuder zu zerreiben, der
wie eine dichte Gipswolke die Trümmer des 19. Jahrhunderts verbirgt.
Wie geschäftig sperrt man der Scharlatanerie, den verspäteten Cagliostros
und Saint-Germains, die Torflügel auf. Dies ist die Stunde, in welcher
der Arzt und der Quacksalber sich in der Türe begegnen, die Stunde entre
chien et loup.
Strindberg, der sich mit dem Falle Dreyfus und der Goldmacherei beschäftigt
— ein gutes Beispiel für eine Haltung, die auf der gefährlichen
Schneide zwischen zwei Zeitaltern steht.
Zinnowitz
Im dichten Gestrüpp hinter der Düne,
das durch seine Üppigkeit erstaunt, erbeutete ich auf meinem gewöhnlichen
Spaziergange ein glückliches Bild: das große Blatt einer Zitterpappel,
in das ein kreisrundes Loch gebrochen war. Bei näherer Betrachtung schien
von seinem Rande ein dunkelgrüner Fransensaum herabzuhängen, der
sich als ein aus einer Reihe von winzigen Raupen bestehendes Gebilde entpuppte,
die sich nur mit den Kiefern am Blattmark hielten. Es mußte hier seit
kurzem ein Schmetterlingsgelege ausgekommen sein; die junge Brut hatte sich
wie ein Feuerbrand des Lebens auf ihrem Nährboden ausgedehnt. Das Seltene
dieses Anblickes bestand in der fast absoluten Schmerzlosigkeit der Zerstörung,
die er vorspiegelte; so machten jene Fransen den Eindruck herabhängender
Fasern des Blattes selbst, so daß gar nichts an Substanz verlorengegangen
schien. Hier war es so augenscheinlich, wie die doppelte Buchführung
des Lebens sich abgleicht; ich mußte an den Trost Condés denken,
den er dem über die sechstausend Gefallenen der Schlacht bei Freiburg
weinenden Mazarin spendete: »Bah, eine einzige Nacht in Paris gibt mehr
Menschen das Leben, als diese Aktion gekostet hat.«
Ich habe für diese Haltung der Schlachtenführer, die hinter der
Verbrennung die Veränderung sieht, immer viel übrig gehabt, wie
für jede Haltung, die dem Menschen einen Wert zumißt, gleichviel
ob dieser Wert fast nichts oder fast alles umfaßt, weil sowohl die eisige
wie die feurige Luft der so geschätzten Stalltemperatur gleich unzuträglich
ist. So empfinde ich ein inniges Vergnügen bei dem Gedanken an das für
Chateaubriand so ärgerliche Wort von der Consomption forte, vom starken
Verzehr, das Napoleon zuweilen in jenen für den Feldherrn untätigen
Augenblicken der Schlacht zu murmeln pflegte, in denen alle Reserven auf dem
Marsche sind, während die Front unter Kavallerieattacken und dem Beschuß
der vorgezogenen Artillerie wie unter einer Brandung von Stahl und Feuer zerschmilzt.
Das sind so Worte, die man nicht missen möchte, Fetzen von Selbstgesprächen
an magischen Schmelzöfen, die glühen und zittern, während im
rauchenden Blute der Geist in die Essenz eines neuen Jahrhunderts überdestilliert.
Vergegenwärtigen wir uns aber, daß diesen Gipfeln einer prächtigen
Unbarmherzigkeit die doppelte Höhe zukommt, insofern sie der Tiefebene
einer immer feineren und schmerzlicheren Empfindsamkeit entwachsen? Das Leben,
das sich an die Tafel setzt, um seine eigenen Herzstücke zu verzehren
— das ist auch ein Bild unserer selbst. Der Wille zur Macht, auf seinem
schrecklichen Wege durch einen peinlichen Willen zur Wertung kontrolliert,
der das Maß der angerichteten Zerstörung nachrechnet und sie in
ihrer vollen Schmerzlichkeit vor das Bewußtsein zu bringen sucht —
in diesem Bestreben, Raupe und Blatt zu gleicher Zeit zu sein, habe ich kurz
nach dem Kriege das quälende Anzeichen der Unsicherheit unserer Ansprüche
gesehen. Aber schon die Tatsache, daß dieser Chorus anklagender Stimmen
sich nicht überhören läßt, daß jede einzelne von
ihnen verarbeitet werden will, muß stutzig machen. Und wirklich verhält
es sich ja auch nicht so, daß das Mitleid, die Humanität, kurz
die Nerven im feineren Sinne, der Stoßkraft des Blutes Abbruch tun,
sofern diese nur vorhanden ist. Es ist keine Kraftverminderung, die sich hier
ergibt, sondern eine unerhörte Steigerung des Abstandes und der Gefährlichkeit.
Der Fürst von Ligne: »Mit dem Vergnügen des Soldaten und dem
Schmerze des Philosophen sah ich zwölfhundert Bomben in die Luft steigen,
die ich auf jene armen Teufel abzuschießen befohlen hatte.« Man
muß die Messer des Schmerzes am eigenen Leibe fühlen, wenn man
mit ihnen sicher und kaltblütig operieren will; man muß die Münze
kennen, mit der man bezahlt. Daher fallen auch an den herrlichen Kriegerköpfen,
die die Bildhauerei und Erzgießerei uns erhalten haben, so oft die geheimen
Siegel des Schmerzes auf. Das heroische Gemüt, das sich verpflichtet
fühlt, keiner Belastung auszuweichen, darf auch diese nicht scheuen.
Eine Idee, die nicht begierig ist, jede Möglichkeit der Verantwortung
an sich zu reißen, gleicht einem Gebäude, das man zu unterkellern
vergißt.
Gerade dies, das Ausweichen vor der Verantwortung dort, wo sie ernsthaft zu
werden beginnt, und das Billige der Erfolge, die heute zu ernten sind, hat
mich die politische Tätigkeit sehr bald als unanständig empfinden
lassen. Welche Mauselöcher der Verantwortungslosigkeit stellen die Parteien
dar in einer Zeit, in der die Werte bei Tag und Nacht auf der Goldwaage zittern
sollten, und wie dankbar muß man den jungen Leuten sein, die sich vor
einer jedem entschlossenen Herzen unerträglichen Niederträchtigkeit
hinter die Mauern der Gefängnisse zurückgezogen haben. Man kann
sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muß
es einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche
schlägt und den nur die Hoffnung erhält, daß irgendwo im Dickicht
andere an der gleichen Arbeit sind.
Wir besitzen in der Welt den Ruf, daß wir Kathedralen zu zerstören
imstande sind. Das will viel heißen zu einer Zeit, in der das Bewußtsein
der Unfruchtbarkeit ein Museum neben dem andern aus dem Boden treibt. Und
wirklich, wenn man mit schärferen Gläsern schaut, wenn man sich
durch die scheinbare Schmerzlosigkeit der Vorgänge nicht täuschen
läßt, muß man erkennen, daß wir uns bemühen, eines
hohen Grades der Schonungslosigkeit würdig zu werden. Man muß erkennen,
daß wir uns bemühen, uns Schmerz zuzufügen, und daß
wieder wie im 15. Jahrhundert der Rauch der Scheiterhaufen über der Landschaft
steht. Wir, deren Sprache die meisten Fremdworte zu ertragen vermag, haben
nicht nur dem Osten und Westen weit die Tore geöffnet, sondern jedem
Raum und jeder Zeit, die für uns erreichbar sind. Dies alles gleicht
der peinlichen Frage der alten Kriminalordnung, und wer könnte etwa die
eschatologische Welt Dostojewskis anders an sich herantreten lassen als mit
Zähneklappern — mit der Furcht, keine Antwort zu finden, deren
Unbarmherzigkeit dem Maße des angetanen Schmerzes entspricht. Die Beschäftigung
des Deutschen zu dieser Zeit ist die, von allen Ecken der Welt Material herbeizuschleppen,
um den Brand zu nähren, den er unter seinen Begriffen gestiftet hat.
So ist es denn kein Wunder, daß alles, was brennbar ist, in vollen Flammen
steht.
Über das Schreckliche dieses Vorganges, der sich im menschlichen Bestande
vollzieht, läßt sich eigentlich nur mit ganz jungen Menschen sprechen
— mit besonders gefährdeten, mit solchen, deren Seele viel Zündstoff
besitzt. Er hat
nichts Problematisches, sondern im Gegenteil etwas sehr Notwendiges, unter
Zwang Stehendes, und so gibt es nichts Unangenehmeres als den deutschen Literaten,
der sich ihm mit seinen Fragestellungen des 19. Jahrhunderts, vor allem mit
dem antiquierten Begriff der individuellen Freiheit, zu nähern sucht.
Den in unseren Städten so Zahlreichen, die wie ausgebrannte Krater sind,
so daß sie fast der leisesten Bewegung unfähig scheinen, kann gar
nicht geholfen, ihnen kann nichts abgenommen werden. Es gibt Schmerzen, die
notwendig sind, und es gibt eine tragische Disziplin, zu der jeder sich selbst
gegenüber verpflichtet ist. So kann man nur wünschen, daß
die Zerstörung sich so langsam vollzieht, daß das Neue nachzuwachsen
vermag, ähnlich wie im medizinischen Sinne eine Verbrennung überstanden
werden kann, wenn nicht über ein Drittel der Haut auf einmal verlorengegangen
ist. Dies ist auch der Wert der Reaktion, des retardierenden Momentes im ganzen
wie im einzelnen. So liegt eine Möglichkeit der Erholung darin, daß
in Zeiten intensiver Wandlung die Politik von mittelmäßigen und
veralteten Köpfen geleitet wird, daß in der Wissenschaft die statischen
Systeme noch Verfechter finden, daß dem Bürger die Normen nicht
verlorengehen, denn auf diese Weise erhält sich eine Art von künstlichem
Horizont, mit dessen Hilfe die verwirrenden Gestirne einer neuen Wirklichkeit
notdürftig zu fixieren sind.
Klärt nicht auch die Tatsache, daß der Mensch dabei ist, seinen
Bestand zu verbrennen, die sehr merkwürdige Stellung unserer Jugend auf?
Da sich in ihr dieser Prozeß am heftigsten vollzieht, steht sie sehr
schutzlos, sehr vereinsamt da. So ist es bezeichnend, daß sie in den
Städten im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht wohnberechtigt ist
und in den Häusern, die die Eltern vor dem Kriege erbauten, ihr Obdach
suchen muß. Ebenso ergeht es ihr in den Berufen, in den wissenschaftlichen
Disziplinen, in der Politik, im Moralischen — es mangeln ihr die Wände
und harten Schalen, daher richtet sie sich in den vorhandenen notdürftig
als Untermieter ein.
So entsteht das Bild von Kriegern, die in
Bürgerzimmern kampieren, oder von Explosivstoffen, die in den Fächern
von Krämerläden gelagert sind. Höchst merkwürdige Erscheinungen
bilden sich so heraus, etwa von Mystikern, die sich der fachwissenschaftlichen
Terminologie des 19. Jahrhunderts bedienen, von Revolutionären innerhalb
konservativer Parteien, von Anarchisten, die allem Anschein nach auf dem Gebiete
der Astrophysik oder der Atomtheorie produktiv tätig sind. >>>>>>>>
>>>>>>>Zu dem, was ich
dort unten gefunden habe, gehört die tiefere Liebe zur Nation, die mir,
wie ich wohl weiß, vor dem Kriege mangelte. Der Pöbel hat, wie
das nicht anders zu erwarten war, das Land im Stiche gelassen. Der Bürger
hat sich von der deutschen Idee abgeschnürt, um ein Deutschland der zeitlichen
Erscheinung zu konservieren. Er hat die vordersten Kampfgräben verlassen,
und das ist gut, denn es befreit den großen Aufstand von jenem Hauch
der Wohlanständigkeit, der auch den stärksten Wein ansäuerlich
macht. Wie leicht wäre es ferner, mit den Geistreichen geistreich zu
sein. Aber dies alles, dieses Gasgemisch aus Verrat, Stickluft und wohlfeiler
Ironie, das den Motor der Korruption in Bewegung hält, muß sich
schon deshalb selbst verzehren, weil es dem
Willen zur Unfruchtbarkeit entstiegen ist. Daher heißt, hiergegen anzukämpfen,
sich seine Aufgabe gar zu billig machen. Es hat keinen Sinn, sich einer Zerstörung
entgegenzustellen, die unaufhaltsam ist. In der sauberen Begrenzung und im
gerüsteten Abwarten liegt die Kraft kleiner, kriegerischer Gemeinschaften,
denn Fäulnis geschieht nicht im wesentlichen Kern; und der Bestand, der
abgebrochen wird, ist ebenso belanglos wie jene Kräfte, die sich damit
beschäftigen.
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Dies ist ein Buch der Sehnsucht nach
dem Verschütteten und dem Verlorenen in uns, ein Manifest für das
Leben, das sich uns zu entziehen beginnt, ein Aufruf, sich mit klopfendem
Herzen dem Unerwarteten dieser Welt auszusetzen, ihrer Dämonie, ihrer
Dynamik, ihrem Schrecken. Mit leidenschaftlichen Sätzen spricht der junge
Autor dem Leser zu, seine Tiefe zu erschließen, um den verlorenen Einklang
mit dem Leben wiederzufinden und sich als wunderbares Wesen anzusehen, das
der verantwortliche Träger wunderbarer Kräfte sei.
»Das Abenteuerliche Herz« faßt Aufzeichnungen zusammen,
die vermutlich zwischen dem Ende des Weltkrieges und der einmaligen Veröffentlichung
1929 niedergelegt wurden. Die Schrecken der Materialschlacht sind künstlerisch
bewußter verarbeitet als in den Kriegsbüchern, die Jünger
europaweit berühmt gemacht hatten. Zugleich aber bezeugt dieses Buch
den Aufbruch in eine vielschichtige, immens fruchtbare Autorschaft, die
nahezu über das gesamte Jahrhundert reicht. Im Jahre 1938 erschien
die sogenannte zweite Fassung mit dem Untertitel »Figuren und Capriccios«
und trat an die Stelle der Urschrift. Die später so genannte erste
Fassung wurde erst wieder Ende der fünfziger Jahre in die zehnbändige
Werkausgabe übernommen, später in der Ausgabe der »Sämtlichen
Werke« fortgedruckt und liegt nun, nach beinahe sechzig Jahren,
wieder als unveränderte Einzeledition vor.
Die biographische Situation des Autors in den Jahren der Niederschrift kann
man sich heute nur schwer vor Augen führen. Hochdekorierter Soldat und
erfolgreicher Autor einer Reihe von Büchern, die aus dem Erlebnis des
Krieges hervorgegangen waren, war er zugleich der glühende Anhänger
einer Nation, die einen Krieg mit ungeheuren Verlusten hinter sich hatte und
durch einen unsinnigen Friedensvertrag gedemütigt war.
Viele Sätze und Metaphern stehen
denn auch unter der Wirkung dieser Umstände. Politische Wirren, Hunger
und Arbeitslosigkeit kennzeichnen diese Jahre ebenso wie ein Umbruch ästhetischer
Werte und Formen, dessen Vorzeichen schon seit der Jahrhundertwende deutlich
gesetzt waren. Die rauschhafte Lebensintensität der Menschen ging,
vor allem bei Dichtern und Künstlern, einher mit pessimistischen
Einschätzungen der kommenden Zeit. Max Rychner: »In der Verzweiflung
dieser Dichter war ein heraufkommendes Verhängnis vorauszuspüren,
noch bevor man es wissen konnte«. Die alte Ordnung Europas, die
bürgerliche Welt — Jünger spricht vom versteinerten Leben
—, seit Beginn des Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt, war
in den Schützengräben des ersten Weltkrieges endgültig
zerbrochen, ohne daß sich eine neue Ordnung schon hätte befestigen
können. Das Schwankende, Unbestimmte jener Jahre hat den Autor wohl
schärfer und nachhaltiger ergriffen als andere. Heute bemerken wir,
daß die tiefgeschichteten Verwerfungen, die dieses Jahrhundert kennzeichnen,
wohl von keinem Dichter so deutlich erkannt und zur Sache seines Werkes
gemacht wurden wie von Jünger. Den größten Teil der zwanziger
Jahre hatte er in Berlin verbracht, einer fiebernden, heißlebenden
Metropole. Zu der Zeit, als »Das Abenteuerliche Herz« erscheint,
zieht er sich auf das Land zurück. Später erwähnt er diese
Veränderung, »weil von nun an die Uhr langsamer für mich
lief und ich mehr Zeit hatte. Das war für meine Prosa günstig«.
»Das Abenteuerliche Herz« ruft seinen Leser zur Entscheidung
und zur Entschiedenheit auf. Augenblicke, Stimmungen, blickhafte Einfälle,
Träume bestimmen die Form dieser Aufzeichnungen, die noch dem Genre
des Tagebuches zugehören und doch auch mit ihrer gelegentlich vexierbildhaften
Wendung zum Manifest, zum Pamphlet, zur Erzählung, zum vertrauten
Gespräch mit dem Leser in einer Übergangsbewegung zum modernen
Essay steht. Jünger, dessen Geistes- und Artverwandte, etwa Rimbaud,
Baudelaire, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Byron, Poe, Kubin, in den Blättern
des Buches verzeichnet sind, stellt sich radikal auf die Seite des Gefühls
vor dem Verstand, des Geistigen gegenüber dem Materiellen, der Werte
gegenüber den Ziffern, des Abenteuerlichen vor dem Alltäglichen
und tritt deshalb als Person mit der Emphase des coeur mis ä nu,
dieser Baudelaireschen Metapher, deren Verwandtschaft mit dem vorliegenden
Titel unverkennbar ist, in einer Weise hervor wie sonst selten in seinen
Büchern.
Obwohl einige Passagen und insbesondere Traumstücke wie etwa »Der
Blechsturz«, »Der schwarze Ritter« oder »Liebe und
Wiederkunft« fast wortgleich in die zweite Fassung aufgenommen wurden,
und obwohl man die erste Fassung wie einen Entwurf zur zweiten sehen kann,
sind die beiden Bücher mit demselben Titel voneinander ganz verschieden.
Das ältere enthält nicht nur eine Fülle von Ansätzen und
Entwürfen zu Werken, die später ausgeführt wurden (»Der
Arbeiter«, »Sizilischer Brief an den Mann im Mond«, »Subtile
Jagden«, »Drogen und Rausch«, »Eumeswil« usf.),
es ist auch so etwas wie ein Schlüssel zum Jüngerschen Denken überhaupt.
Bei der zweiten Fassung ist unverkennbar, daß eine sorgsame, die Prosa
wie ein Werkstück bearbeitende Hand mit dem leidenschaftlich, oft rauschhaft
niedergeschriebenen frühen Text umgegangen ist, und wenn aus diesem künstlerischen
Prozeß ein Werk von einzigartiger Schönheit entstanden ist, eines
der wenigen großen Bücher dieses Jahrhunderts, so zeichnet das
ältere Werk, sein Skizzenbuch, wie Jünger es einmal nannte, der
Schmelz des unbekümmerten Anfangs aus. »Mögen wir niemals
so alt werden, daß wir das rechte Lachen verlieren über die Taten
derer, die plötzlich als Taugenichtse auf und davon gingen, weil ihnen
die Bücher den Kopf verdrehten. Mögen wir im Gegenteil immer bei
denen sein, die eines Morgens ausziehen, fest in den Steigbügeln und
reiten in die Sonne hinein, mit dem festen Glauben an sich und die Schatzkammern
der Welt.« Mit solchen Sätzen verschwört er sich mit dem Leser,
den er als Einzelnen, Einsamen adressiert. Wenige Sätze weiter kommt
er auf Don Quichote zu sprechen, diese alte Symbolfigur des Anarchischen,
eine erste Lektüre des Zehnjährigen und sein späteres Erkennen,
daß »die alten Narren die besten« seien. Dem Sterben des
Kindes im Menschen, dem Anwachsen des Alltäglichen, dem Einbruch der
Aufklärung in die frühen Träume wird fast schon eine Programmatik
des Erlebens gegenübergestellt, wobei »böse« Momente,
wie der Schrecken, der Schock, das Entsetzen, der Schmerz in einem neuen Wertgefüge
neben Gewöhnlichem stehen, wie dem Augenblick, dem Traumbild, dem »heißen
Begreifen« des Kindes. Der Einbruch des Jähen, Unerwarteten reißt
den Menschen aus der Lauheit heraus, das »ganz andere« tritt ein.
Jünger läßt keinen Zweifel, daß es ein materialistisch
werdendes Zeitalter zu bestehen gilt. In einem Essay, der wenig später
erscheint, fasziniert und bedrückt ihn etwa die Vorstellung eines Menschen,
der ein Torpedo steuert, also zum intelligenten Aggregat einer Maschine wird.
Mit der Erinnerung an das magische Weltalter wird eine Wahrnehmung gesucht,
wo »die Dinge noch einmal zum Sprechen« gebracht werden, wo der
lebendige Einklang entsteht zwischen Mensch und Sache, wo »die Bannkraft
neuer, verborgener Urbilder« wirksam wird. Die materielle Welt
muß von uns verzaubert werden, sonst vernichtet sie uns.
Die etwas später erschienene Reiseaufzeichnung »Dalmatinischer
Aufenthalt« bezeichnet Jünger als eine Schule des Sehens. Hinter
dieser Formulierung verbirgt sich eine in ihrer Bedeutung noch kaum verstandene
neue Optik, deren Umrisse in dem vorliegenden Buch erkennbar sind. Ihr »dynamisches
Wesen«, also die Abkehr von der alten kontemplativen Ruhe im Schauen
und die Entdeckung einer Wahrnehmung, die erregt und bewegt ist und bei der
die Sinne in den Sinnen tätig werden, wird uns eigentlich erst in diesen
letzten Jahren des Jahrhunderts richtig zugänglich.
Von einigen wenigen aus den Zeitumständen erklärbaren Passagen abgesehen,
hat dieses kühne, leidenschaftliche Buch über ein halbes Jahrhundert
nach seinem ersten Erscheinen an Gegenwärtigkeit nichts verloren. Im
Gegenteil, das Leben mit seiner trügerischen Dynamik in einer technisch
weiter fortgeschrittenen, komfortzivilisatorischen, neu verbürgerlichten
Welt, ist naturferner und langweiliger als zu der Zeit, da sich überall
in Europa Künstler und Intellektuelle an die Erneuerung einer skierotisierten
Kultur machten.
Michael Klett |
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> > > Die Lage, in der sich unser
Instinkt zurechtzufinden hat, ist immer noch die, daß die Abbilder der
Werte eines durch verstandesmäßige Erkenntnis beherrschten Jahrhunderts
das einzig Sichtbare sind, während das Leben bereits unter der Bannkraft
neuer, verborgener Urbilder steht. Dies bringt die gültigen Ordnungen
und die sich immer dringender anmeldenden Werte in einen Gegensatz, der noch
heute nicht entschieden ist.
Dieses Jahrhundert gleicht uns sehr. Obwohl
es in seiner Wiege bereits eine Reihe von Schlangen erdrückte, ist es
doch mit dreißig Jahren in bezug auf sein Bewußtsein noch ein
Kind. Wir alle könnten unser Schulgeld zurückverlangen, insbesondere
der vierte Stand, dem seine Lehrmeister ein geradezu hoffnungsloses Autoritätsbewußtsein
mitgegeben haben. Wie soll einer Bäume ausreißen, der nicht auf
den Rasen zu treten wagt.
Mit stereoskopischem Blick betrachtet, bietet
etwa der späte Darwinismus, der noch auf unsere Jugend entscheidende
Schatten warf, ein seltsames Bild. Auf der einen Seite erscheint er als Anstrengung
des wissenschaftlichen Willens in seiner emsigsten Tätigkeit, bereit,
das Leben nicht nur zu erklären, sondern es gänzlich auszufüllen
und in den letzten seiner Bezirke einzuströmen.
Vom andern Pole aus jedoch überrascht ein phantastisches Spiegelbild:
das Leben, vordringend in den wissenschaftlichen Raum, um sich mit dem Geschrei
der Märkte, dem Haß der Blutsgemeinschaften und dem Toben politischer
Kämpfe in ihm anzusiedeln. Das Ganze ist ein magischer Vorgang von hohem
Rang, nur vergleichbar mit gewissen aus dem Dunkel von Träumen auftauchenden
Masken, deren Ausdruck sowohl tödliche Starre wie dämonische Bewegung
zu spiegeln scheint.
Der Zweifel, dessen bissige Meute das Leben
von seiner eigentlichen Bühne in immer höhere und gefährlichere
Ränge hetzt, bis es sich in eisige, luftleere Räume verschlagen
sieht. Doch während hier sein Formenschatz in den Abgrund stürzt,
schwingt sich das, was diesen Schatz zu schaffen vermochte, mutig hinaus zur
Herrschaft über ein neues Element — und wer weiß, ob hinter
dem Ganzen nicht von vornherein die Sehnsucht zum Fluge lebendig war?
Da die Einzelnen sich darauf angewiesen sehen, in den vorhandenen Formen um
die neuen Werte zu kämpfen, so schleppen sie, ohne es zu ahnen, in die
Welt dieser Formen die Zersetzung ein. Aber, wie gesagt, geschieht Fäulnis
niemals im wesentlichen Kern; und eine Untersuchung, auf welchen Wegen und
Umwegen sich das wertvolle Leben rettet aus diesen unsichtbaren und tödlichen
Mikrobenschlachten zwischen zwei Zeitaltern, würde ein lohnendes Schauspiel
bieten. Jedes Sterben findet auf der Schattenseite des Lebens statt, wie jedes
Leben sich vom Tode ernährt. |
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